Im Juni 2000 wurde in Hamburg ein sechs Jahre alter Junge von zwei Hunden getötet:
Protokoll eines vorhersehbaren Todes – Panorama Juli 2000
„Schießt mich auch gleich tot!“ – Der Spiegel Januar 2001
Dieser Vorfall war so erschütternd, dass er weltweit diskutiert wurde und die Frage aufwarf, wie derartige Angriffe von Hunden in Zukunft dauerhaft verhindert werden können. Er ist bis heute nicht der einzige Vorfall dieser Art geblieben.
Rasselisten
Zwei Tage später hatte Hamburg eines der härtesten Hundegesetze in Deutschland und die anderen Bundesländer zogen nach (oder dienten als Vorbild: im Freistaat Bayern besteht bereits seit dem 10. Juli 1992 die „Verordnung über Hunde mit gesteigerter Aggressivität und Gefährlichkeit“).
Die meisten Hundegesetze formulieren Rasselisten, die darauf abzielen, die Haltung von bestimmten Hunderassen einzuschränken oder zu verbieten. Da jedes Bundesland andere Hunderassen als gefährlich listet und unterschiedliche Verbote und Auflagen ausspricht, klingt das nicht nur verwirrend, sondern ist es auch.
Rasselisten der deutschen Bundesländer – Wikipedia
Während also der Standard Bullterrier in zwölf Bundesländern als gefährlich angesehen wird, sehen vier Bundesländer den Bullterrier als ungefährlich. Kaukasische Owtscharki sehen zwei Bundesländer als gefährlich, vierzehn sehen kein gesteigertes Risiko.
Nur zwei Bundesländer führen keine Rasseliste: Schleswig Holstein und Niedersachsen.
Die Lage in Niedersachsen
In Niedersachsen wird der Hund als gefährlich eingestuft, der als gefährlich aufgefallen ist – unabhängig von Rasse, Größe und Alter. Halter von Gefahrenhunden müssen mit ihrem Hund die Sachkunde nachweisen und einen Wesenstest absolvieren.
Entschieden wird hierbei nach Aktenlage – der Hund, der Menschen, Artgenossen oder andere Tiere nachweislich verletzt, kann bei Anzeige durch die zuständigen Behörden als gefährlich eingestuft werden. Dabei interessieren die Umstände, durch die es zu einem Beissvorfall kam, wenig.
Damit alle Hundehalter mehr Sachkenntnis im Umgang mit ihren Hunden haben, ist seit Sommer 2013 den Hundeführerschein für alle (Neu-)Hundehalter in Niedersachsen Pflicht. Der Hundeführerschein besteht aus einem theoretischen und einem praktischen Teil. Zudem müssen Hunde im Niedersächsischen Zentralregister registriert werden und deshalb mit einem Mikrochip versehen und versichert sein.
Das Zentralregister ist eine vernetzte Datenbank, die unter anderem den Behörden Auskunft über Anzahl und Verteilung von als gefährlich eingestuften Hunden gibt und dient der Zuordnung von Hund zu Halter.
Wesenstest
In Niedersachsen durchlaufen als gefährlich eingestufte Hunde einen genormten Wesenstest mit 36 Prüfungssituationen, die zweimal in Folge gestellt, gefilmt und durch einen Gutachter bewertet werden.
In anderen Bundesländern gibt es auch Kurztests oder auch freie Begutachtung durch Fachpersonal des Ordnungsamtes oder von vereidigten Gutachtern.
Der Wesenstest hilft bei der Einschätzung eines Hund-Halter-Gespanns – ist aber die Beurteilung einer Momentaufnahme. Hund und Halter sind bei Testsituationen nicht in ihrer gewohnten Umgebung, sondern entsprechend ihres Umfeldes auch verändert in ihrem Verhalten. Das Testergebnis kann also gut oder schlecht beeinflusst werden.
Grundsätzlich können Hundehalter und (auch schwierige) Hunde auf den Wesenstest durch Training gut vorbereitet werden, so dass auch ein aufgeregtes Hund-Halter-Gespann gute Chancen auf Bestehen hat.
Gefährliche Hunde
Was macht einen Hund also zu einem gefährlichen Hund? Diese Frage wird von allen Seiten emotional heftig diskutiert.
Die Rasse? Es steht außer Frage, dass viele Hunderassen gezüchtet wurden, um gesteigerte Aggressivität zu zeigen. So wird bei der Rassehundezucht einiger Hunderassen z.B. „Raubzeugschärfe“ (wehrhaftes Wild wird vom Hund angegriffen), oder „Mannschärfe“ (Menschen werden vom Hund angegangen) geschrieben und einige Gebrauchshunde benötigen Schutzhundprüfungen (VPG oder IPO – Sporthunde begeben sich in einen ritualisierten Dressurkampf mit Menschen um eine Beute und zeigen dabei erwünscht Aggressions- und Jagdverhalten), um zur Zucht zugelassen zu werden.
Andere Rassen sind für Hunde- oder Tierkämpfe gezüchtet worden und darauf selektiert worden, erhöhte Aggressionsbereitschaft(z.B. gegen Artgenossen) auszuleben.
Es ist nicht zu leugnen, dass Hund eben nicht gleich Hund ist. Aber: wer eine hohe Aggressionsbereitschaft bei hoher Selbstbeherrschung hat, ist weit weniger gefährlich, als eine niedrige Aggressionsbereitschaft bei geringem Selbstwert.
Die Erfahrung zeigt, dass vor allen Dingen die Hunde zubeissen, die wenig Erziehung und dünne Nerven haben. Unabhängig von ihrer Rasse. Rasselisten haben aus diesem Grund nicht dazu geführt, dass weniger Menschen verletzt oder getötet werden.
Gefährliche Halter
Unkenntnis, Vorsatz oder auch schlicht die mangelnde Empathie gegenüber anderen Lebewesen führt bei einigen Hundehaltern dazu, dass ihre Hunde gefährlich werden. Ein unerzogener Hund, der den Rückruf nicht befolgt und vor ein Fahrrad läuft kann genauso gefährdend für Mitmenschen wirken, wie ein Hund, der andere Hunde oder Menschen beisst, gefährdet und trotz dieser Vorfälle keinen Maulkorb trägt.
Je besser ein Hund erkannt wird, desto besser wird er gekannt. Ein Hundehalter muss das Potenzial seines Hundes erkennen und lernen, damit umzugehen. Das kann manchmal ein schmerzhafter Prozess sein und Hundehalter auch erschrecken. Aber es ist unsere Verantwortung als Hundehalter.
Es ist egal, was andere Menschen denken: Hunde, die die Umwelt bekanntermaßen gefährden, gehören an die Leine. Egal, ob sie stark jagen, jeden Abruf ignorieren, schnappen, andere Hunde vermöbeln oder zubeissen. An einigen Unarten kann und sollte gearbeitet werden. Es ist nicht die Schuld der anderen, wenn der eigene Hund sind daneben verhält.
Würden Hunde, auch die netten, öfter einfach so mal Maulkorb tragen (weil es eben völlig okay ist, mal einen zu tragen) dann wäre der Maulkorb ein gewohntes Bild für alle Welt. Und die Welt würde sich bedanken, dass Hunde, die einen Maulkorb brauchen, ihn auch entspannt tragen. Und niemand würde einen Maulkorb tragenden Hund mehr stigmatisieren. Es wäre ein normales Bild. Derzeit ist es das nicht und Hundehalter verzichten lieber darauf, ihren Hund mit einem Maulkorb zu sichern, weil sie sich davor schämen, was andere sagen oder denken.
Und weil Hunde ja Freilauf brauchen, weil sie sich ansonsten unglücklich fühlen, wird auch der stark jagende Hund abgeleint – egal, ob der Hund selbst, Wildtiere oder Autofahrer dadurch an Leib und Leben gefährdet sind.
Gefährliche Hundehalter gibt es an jeder Ecke. Da kann der Hund noch so nett sein.
Die Umwelt
Jeder Hund kann gefährlich sein. Je besser er eingeschätzt und erzogen ist, umso geringer in das Risiko. Das setzt voraus, dass ein Hund von seinem Halter und auch von seiner Umwelt ernst genommen und respektiert wird.
Hunde werden aber nicht ernst genommen – sie tauchen in unserer Gesellschaft als Werbemaskottchen, verkleidete Rentiere und lebendige Kuscheltiere auf. Fremde Menschen fassen ungefragt angeleinte Hunde an, nicht nur Kinder – auch Erwachsene äffen Hundegebell nach, stieren Hunde herausfordernd an oder werfen zum Spaß Böller nach ihnen.
Fremde Hunde laufen unangeleint und ungebremst in angeleinte Artgenossen rein, Hunde, die Maulkorb tragen, werden trotzdem (oder deswegen?) angefasst. Hunde, die angeleint ruhig an der Seite liegen, finden unter Garantie einen gedankenlosen Fremden, der ungefragt und unangekündigt darüber steigt.
Immer wieder gerne fahren Radfahrer in Affenzahn von hinten auf Hundehalter zu und klingeln dann etwa in 1 m Entfernung. Hat der Hundehalter seinen ersten Schreck überwunden, fragt er sich, was er nun tun soll, denn der Fahrtwind pfeift noch durch die Haare und der Abruf des Hundes könnte den Radfahrer von seinem Rad holen – dreht der Hund um, der vom Radfahrer noch nichts ahnt, ist eine Kollision gar nicht unwahrscheinlich, denn auch der Hund erschreckt ein paar Meter weiter. Auch einige Jogger sind wahre Meister im „Unangekündigt-in-Hundegruppen-Rennen“. Was diesen Mangel an Selbstschutzgedanken bewirkt, konnten wir bislang noch nicht rausfinden. Ehrlich jetzt: Manchmal ist man verwundert, in wie viel Situationen Hunde cool bleiben. Nur darüber redet eben niemand.
Natürlich. Kinder haben das Recht, sich falsch zu verhalten. Fehler zu machen. Und trotzdem keine Hundeattacke zu erwarten, der sie gesundheitlich nicht Stand halten können.
Das gilt für Erwachsene genauso – trotzdem müssen auch Hunde von Menschen einen respektvollen Umgang erwarten, was gelegentliches Mitdenken erforderlich macht.
Gefährliche Hunde sind eine Momentaufnahme. Ein gefährlicher Hund kann gleichzeitig auch ein sehr netter und gut erzogener sein. Die Gefährlichkeit ist abhängig von Genetik, Halter, Charakter und der Situation. Die Gefährlichkeit eines Hundes kann eingeschätzt werden und sie ist jederzeit durch verschiedene Faktoren (z.B. Halterwechsel, Schmerzen, hormonelle Umstellung) veränderbar.
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Wer die obigen Artikel durchliest, der stellt fest, dass derart schlimme Angriffe von Hunden auf Menschen eigentlich zu verhindern wären – aber nur durch einen sachkundigen Umgang durch die Hundehalter. Durch Erziehung und Verantwortung. Rasselisten und Gesetze, Hundeführerscheine und Wesenstests werden zwar angeordnet und durchgeführt, an der Situation von völlig verantwortungslosen Haltern ändert sich nichts.
Wenn Hundehalter nicht bereit sind, die ersten Anzeichen für Verhalten, das nicht toleriert werden darf, zu erkennen und auch aktiv etwas dagegen zu unternehmen, ist jede Instanz machtlos.
Der Gesetzgeber kann daran wenig ändern – die seit 2000 ergriffenen Maßnahmen haben nicht verhindern können, dass jedes weitere Jahr Menschen in Deutschland durch Hunde schwer oder tödlich verletzt werden.
Was ist passiert?
Durch Zucht- und Importverbot bestimmter Rassen, sollten vier Hunderassen in Deutschland ausgerottet werden. Passiert ist genau das Gegenteil: vier Hunderassen wurden über Nacht „berühmt“, in bestimmten Kreisen sehr gefragt und die illegale Einfuhr über die Grenze und die (inzwischen nicht mehr in jedem Bundesland) illegale Vermehrung boomt bis heute. Auf der anderen Seite gaben seriöse Züchter, die auf geistige und körperliche Gesundheit Wert gelegt und auf Welpenkäufer ein Auge hatten, ihre Zuchten jedoch auf.
Die Tierheime in ganz Deutschland sind bis heute übervoll mit Hunderassen, die eigentlich schon lange nicht mehr existieren sollten. Und hätten unsere Rasselisten ihren Sinn und Zweck erfüllt, könnte es nicht so sein, wie es ist.
Im Umkehrschluss ist es nun so: nur wenige dieser Hunde haben die Chance auf eine Vermittlung, da sie ja in vielen Bundesländern verboten, eingeschränkt erlaubt oder besonders hoch besteuert sind.
Obwohl es eine sehr große Lobby für gelistete Rassen gibt, ist es fraglich, ob diese Lobby den Hunden immer nützt. Die Lobby verharmlost und verniedlicht – das ist aber keine Form, die Hunde ernst nimmt, mit allen Stärken und allen Schwächen. Fotos von Pit Bull Terriern neben Kleinkindern führen bei Nichthundehaltern nicht zwangsläufig zu Sympathie – sondern zu Entsetzen.
Aber die Hundehalter, die sich vor ihrer Verantwortung drücken, schaffen sich Hunde an, die günstig zu haben sind, bei denen die Verkäufer nicht nachfragen, wie der Käufer sie hält (z.B. Inserate in Zeitungen und Internet, Auslandsverkäufe, dubiose Züchter und Privatverkäufer). Sie sind nicht steuerlich gemeldet, nicht gechipt und nirgendwo registriert.
Es ist deshalb verständlich, dass Ordnungsämter auf Hundefreilaufflächen kontrollieren und bemüht sind, die „schwarzen Schafe“ zu finden. Nicht jeder Hund, der Menschen massiv gefährdet, wird auf Hundewiesen zu finden sein. Aber gefährliche Hundehalter, die gibt es dort auch.
Hundehalter, die die Gesetze ernst nehmen und das Verhalten ihrer Hunde auch, gibt es auch noch. Erfreulicherweise. Wir sind immer froh, wenn Hundehalter ihre Hunde nicht mit Spielzeug hoch drehen, bereit sind, ihren Hund mit Maulkorb zu führen und Wert auf einen guten Rückruf legen.
Und nette Mitmenschen (jeden Alters!) auch. Radfahrer, die ihr Tempo drosseln und frühzeitig klingeln, Jogger, die sich bedanken, wenn die Hunde gerufen und angeleint werden und Eltern, die ihren Kindern keine Angst vor Hunden machen, sondern sie als empfindungsfähige Mitgeschöpfe vorstellen.